Endlich 100

29. August 2022

„Sagen meine Tanten“ heißt ein flotter Beat-Song aus alten Tagen. Meine Tanten sagen, beziehungsweise denken, dass ich kein richtiger Autor sei, weil ich davon nicht leben könne. Ungeachtet der Tatsache, dass ich vor Jahren ganz gut im Rennen lag. Momentan habe ich jedenfalls einen richtigen Job, etwas uncool und okay bezahlt, bin aber krankgeschrieben, nachdem ich vor drei Wochen auf dem OP-Tisch lag. Ich fühle mich schon wieder recht fitt, wie ein Home-Office-Fuzzie, denn ich arbeite jeden Tag so schwarz auf weiß vor mich hin; als Autor, weil ich gerade schreibgeil bin. Wenn ich mehr als fünf Liegestütze ohne Ziepen im Bauch absportler, traue ich mir auch die körperliche Ertüchtigung im Vollzeitjob zu, so in zwei Wochen. Der Gegenwartsroman dürfte im September immerhin vorzeigbar sein. Ich werde demnächst meine Fühler nach einem Bundesliga-Verlag ausstrecken, denn auf die Copyshop-League habe ich keinen Bock. Meine OP-Episode vom 10. August habe ich in Kapitel 5 eingebastelt. Hier ist sie:

All die Jahre, all die Jobs. Was habe ich nicht alles versucht und verflucht? Vor einem Jahrzehnt fand ich mich in einem Berufsberatungslokal wieder, wo mir eine junge Frau gegenüber saß, die ihr Köpfchen so schräg und starr hielt und mit einem Äuglein hinter ihrem flotten Popperschwenker hervor lugte. Mir lag eine alte Volksweisheit auf der Zunge, die ich von meiner Mutter kannte: „Schiele wipp, der Käse kippt!“ Gerne hätte ich ihr väterlich das Haar aus dem Gesicht gestrichen, doch ich war nur als Fremdkörper gekommen und musste als solcher gehen. Die letzte Popper-Braut Berlins verwies mich in ein Nachbarzimmer, wo mir ihre Kollegin den allseits bekannten Hinweisschrott unterbreitete. Ich solle meine beruflichen Erfahrungen und persönlichen Interessen in Einklang bringen, alles miteinander multiplizieren und das schlummernde Potenzial in mir aktivieren. Ein bisschen hü, ein bisschen hott. Ich verlautbarte, mir vorstellen zu können, im sozialen Bereich zu arbeiten, für wen und als was auch immer. Na, das wäre doch schon mal was! Bald seien all meine finanziellen Sorgen passé. Klar, ich besäße ein gewisses Einfühlungsvermögen, da ich einige Monate zuvor selber für ein paar Tage 80, 90, 100 Jahre alt war, sogar bettlägerig, nachdem ich wegen eines versteckten Mangels operiert werden musste. Ja, so war´s: In meinem Bauchuniversum fühlte es sich so prall an, wie ständig überfressen, manchmal auch so fies nach Muskelkater. Ich musste von einer Untersuchung zur anderen, und von dort aus über den Operationsvorbereitungsraum in ein frisches Bett, welches ich mit in den Raum zu schieben half, in dem etwa acht andere Wartende die Zeit mit Fernseh-gucken oder Zeitung-lesen vertrieben. Einige schauten kurz auf, wie ich mich körperlich ertüchtigte und fragten sich: Schiebt der sein Bett selber? Was will der hier? Na so fertig war ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht. Danach kam ich auf eine Liege und wurde über den Oberschenkeln angeschnallt. Das war die letzte Chance zur Flucht gewesen. Ob ich eine Patientenverfügung abgegeben hätte? Nein, man könne mich ausweiden und verwerten, denn abgesehen von dem einen Dilemma sei ich ein gesunder Patient. Und schon bekam ich eine Maske über das Gesicht gestülpt, über die, wie eine scherzende Autorität verlautbarte, nur ein bisschen Sauerstoff käme. Ich solle an was Schönes denken. Schnell wurden die Bilder in meinem Kopf bunter. Ich wähnte mich dem Tod nahe, war aber gut drauf. Einige Ärzte machten an mir herum. Ich bekam nicht mit, wie die konsequente Kralle des großen Medikus erst seine vier Finger in meinen Bauch rammte und die Flüssigkeit absaugte, um danach mit Daumen und Zeigefinger den nunmehr leeren Lappen gekonnt aus meinem Bauch heraus zu flutschen und in den Eimer mit dem Katzenfutter zu befördern. Als ich wieder aufwachte, hörte ich liebliche Frauenstimmen und antwortete recht freundlich. Allerdings, wie ich zuvor gelesen hatte, konnte es nach der OP vorkommen, dass die Stimme kurzzeitig versagt, und so war es. Sprach ich …? Zumindest hörte ich mich selber nicht. Träumte oder wachte ich? Meine ersten Bemerkungen nach der OP schienen immerhin zu dem Kurzgespräch zu passen, welches ich vor der Sauerstoffzufuhr mit der netten Anästhesistin hatte. Doch das waren jetzt ganz andere Frauen, die mich für süß befanden, mir ein Eis anboten und schnell verschwanden. Wie im Leben da draußen, bloß ohne Kompliment und ohne Nascherei. Die folgenden Tage sollten es in sich haben. An mir hing ein Katheder, mein Bauch war zugepflastert und jede falsche Bewegung, sofern überhaupt möglich, äußerst schmerzvoll. Eine leichte Berührung zwischen Bauchnabel und Gemächt ließ mich an die Decke gehen, zumindest emotional. So musste es sein, wenn man als nahezu zerstörter Greis nur noch dahin vegetierte und sich gewillt zeigte, dem schwierigen Schwager alle Passwörter zu verraten. Immerhin war es entgegen meiner Erwartungen im Krankenhaus nicht langweilig. Ich lag im Bett, dauernd kam jemand herein und wollte einen Blick auf die Pflaster werfen. Mal anfassen und sehen, wie ich aufstehe und mich auf die Bettkante setze. Das sei meine Aufgabe, positiver Stress unter Schmerzen. Schon am zweiten Tag nach der OP tippelte ich den Korridor entlang, ließ mir den gruseligen Katheder entfernen und verließ eine halbe Woche später das Haus. Ich brauchte einige Tage, um das Ziepen im Schwanz loszuwerden, trank Nieren- und Blasentee und mühte mich mit Abführmitteln, um den Scheiß in Gang zu bringen. Ich tippelte zur Straßenbahn, von dort aus zur Ärztin, für einen Krankenschein, und wieder zurück; immer auf der Hut, nicht in ein Gedränge zu kommen, wo ich keine Chance haben würde und mich nur um-schubsen lassen konnte. Kamen mir auf dem schmalen Spießbürgersteig scheue Senioren langsam entgegen, signalisierte ich mit meinen Augen: Keine Gefahr, ich bin einer von euch. Doch es ging aufwärts, ich fühlte mich zunehmend wie ein beweglicher 75, 70, 65jähriger … Jedenfalls begann ich einige Wochen nach meiner Aufwartung im Berufsberatungslokal die Ausbildung zum Betreuungsassistenten, um den professionellen Umgang mit an Demenz erkrankten Senioren zu erlernen …